Dezember 2022
Es ist schon später Abend, als Fiona mich völlig genervt anruft. Zuerst machen wir natürlich unser übliches Code-Spielchen: Sie will mit jemandem sprechen? Dann schickt sie mehrere Nachrichten nur mit dem Anfangsbuchstaben des Namens. In meinem Fall sind das also mehrere Ls. Sobald ich Ls von ihr erhalte, antworte ich mit Fs, damit sie weiß, dass ich verfügbar bin. Darauf schreibt sie Te llamo, was ‚Ich rufe dich an‘ bedeutet. Darauf antworte ich mit V, das steht für Vale, die spanische Variante für ‚Ok‘. Unsere Gesprächseinleitung sieht also in etwa so aus:
„L“
„L“
„L“
„L“
„L“
„F“
„F“
„F“
„F“
„Te llamo“
„V“
Eine weitere Variante ist auch, dass sie das Te llamo in Te lla oder nur Te abkürzt, während ich schon mein V eintippe.
Manchmal erspare ich ihr das Te llamo auch, indem ich nach den Fs sofort ein V schicke.
„L“
„L“
„L“
„L“
„L“
„F“
„F“
„F“
„F“
„V“
Und schon klingelt kurz darauf dann das Telefon.
Gerade eben sind jede Menge Ls und sofort ein „Te lla“ eingetrudelt. Sofort darauf bimmelt mein Handy, bevor ich überhaupt mit Fs reagieren oder ein „V“ schicken konnte.
„Niña, ich hatte einen grauenhaften Tag!!!“, tönt es mir entgegen. „Ich habe mich mit allen gestritten!! Ich bin gerade nach Hause gekommen und habe mir erst mal ein richtig großes Glas Wein eingeschenkt. Aber groß, eh! Heute betrinke ich mich. Sollst mal sehen, was für einen Kater ich morgen haben werde. Aber echt!! Was für ein Tag!!“
„Schieß los!“, sage ich nur.
„Uff, ich habe mich mit Mario gestritten, und dann mit …“
„Moment mal, wer ist Mario?“, unterbreche ich sie verständnislos. War das der Maurer?
„Na, der Typ aus Tinder, mit dem ich neulich telefoniert habe und der so nett zu sein schien.“
Ach ja, ich erinnere mich: gerade erst hierhergezogen, kennt noch niemanden, hat dreimal ein Treffen mit Fiona vorgeschlagen, aber sie hatte nie Zeit. Ok, jetzt habe ich den nötigen Kontext.
„Da ruft er doch heute an und macht mich zur Schnecke, weil wir uns noch nicht getroffen haben!“
„Wie bitte?“, gebe ich erstaunt von mir und fühle mich an Emilio erinnert.
„Ja!! Schreit mich an, tobt herum. Und außerdem hat er mir stäääääändig Nachrichten geschickt, ich konnte schon gar nicht mehr atmen.“ Sie stöhnt laut auf.
„Ich kann ja verstehen, dass er sehr alleine ist, aber Himmel, ich habe ein Leben, und ich habe Zeug zu erledigen! Und er klammert so stark – dabei kennen wir uns noch gar nicht! Du meine Güte!! Aber obwohl er heute so übel drauf war, habe ich mich auf ein Gespräch mit ihm eingelassen und ihn erst mal beruhigt. Ich war zuletzt sogar bereit, mich mit ihm zu treffen. Doch dann wurde er wieder unglaublich drängend. Wollte sich noch heute mit mir treffen, möglichst sofort. Oder zumindest ganz verbindlich einen Termin für morgen ausmachen. Dazu war er dann wieder so unfreundlich und verärgert, dass ich ihm zu guter Letzt klipp und klar gesagt habe, jetzt wäre Schluss. Er solle mich nicht mehr anrufen!“ Sie ist immer noch ganz außer sich, während ich mich einmal mehr an Emilio erinnert fühle. Déjà-vue …
„Und danach habe ich mich mit Mar gestritten. Und dann mit Miguel und zuletzt noch mit Laura.“, fährt Fiona aufgeregt fort.
„Na, da warst du aber fleißig!“, gebe ich trocken zurück.
„Äh, ja.“, sagt sie nach einer kurzen Pause leicht irritiert wegen meines Kommentars, muss dann aber doch ein bisschen lachen, bevor sie weitererzählt:
„Also Mar und Jesús haben sich schicke Sweatshirts von dieser teuren Marke gekauft. Wollten unbedingt dasselbe Shirt haben. Dunkelblau und vorn drauf in Weiß das Logo der Marke. Ziemlich groß und irgendwie gummiert oder so. Jedenfalls war ich vor drei Tagen mittags bei ihnen und habe Fisch in Tomatensoße gemacht. Als Jesús sich ein Stück Fisch mit Soße auf den Teller gelegt hat, hat die Soße etwas gespritzt. Und natürlich auf das weiße Logo.“
„Logisch.“, sage ich nur knapp. Ist doch immer dasselbe, oder?
„Aber du, das war nur ein Nichts, ein Hauch von Nichts an Soße, wirklich. Ein winziges, winziges Tröpfileinichen. Kaum zu sehen. Ich habe ihm gesagt, er soll es ein bisschen mit Wasser abtupfen. Hat auch geklappt, da war absolut nichts mehr zu sehen. Aber er war davon überzeugt, dass man den Fleck immer noch sehen würde. Also hat er das Shirt in Bleiche eingelegt.“
„Was?? Ach du lieber Himmel!“, stöhne ich nur. „Ein dunkelblaues Shirt in Bleiche, ja?“
„Ja, ganz genau.“, sagt sie jetzt genauso knochentrocken wie ich vorhin. „Und sie haben das Shirt zwei Tage lang in der Lejía gelassen …“
„Aaaarrrggghhh.“, kommt darauf nur von mir.
„Und heute ruft mich Mar an, weil das Shirt vollkommen fleckig geworden ist.“
„Logisch.“, erwidere ich erneut.
„Und auch irgendwie hart wie Karton. Vor allem der gummierte Teil mit dem Logo.“ Ich brumme verständnisvoll.
„Ich habe nur gesagt ‚Das geschieht ihm recht, weil er so ein Dickkopf war‘, schließlich war der Fleck ja überhaupt nicht mehr zu sehen. Wirklich, da war absolut nichts mehr zu sehen. Also habe ich zu Mar gesagt, dass Jesús das nur recht geschieht, weil er so ein Dickkopf ist.“, wiederholt sie noch einmal aufgebracht und fügt dann hinzu: „Darauf wurde Mar dann allerdings ziemlich sauer.“
„War ja auch nicht besonders diplomatisch und nett deinem Schwiegersohn gegenüber.“, gebe ich zu Bedenken.
„Das hat Miguel auch gesagt.“
„Ach, und deshalb hast du dich dann heute auch mit Miguel gestritten, ja?“
„Ja. Äh, nein. Nein, mit Miguel habe ich mich nicht gestritten. Also nicht heute. Gestern schon, aber heute nicht.“ Ich kann nicht anders, ich gluckse leicht.
„Also hast du dich heute mit dem Typen aus Tinder und mit Mar, aber wenigstens nicht mit Miguel gestritten, ja?“
„Nein, mit Miguel das war gestern. Heute habe ich mich dann aber noch mit Laura gestritten. Das war eigentlich der größte Krach von allen. Sie lässt mich nie zu Wort kommen!! Ich will ihr etwas erzählen, aber sie unterbricht mich ständig mit ihrem Kram und mamá dieses und mamá jenes. Jedes Mal, wenn ich etwas sagen will, unterbricht sie mich wieder ‚Ja, gleich, gleich. Jetzt lass mich doch auch mal zu Wort kommen‘ und so weiter. Es ist zum Verrücktwerden.“ Ja, das ist nicht das erste Mal, dass sie mir davon erzählt. Ich brumme also wieder nur verständnisvoll.
„Ich habe dir doch von meinem säumigen Mieter erzählt und dass er das Haus nicht räumen will, richtig?“
„Jaaaaa?“
„Also, er meinte, mit all der Miete, die er mir bezahlt hätte, hätte er das Haus längst abbezahlt und jetzt wäre es seins. Und Punkt. Aber anscheinend hat sich die Gesetzeslage irgendwie geändert und schützt Hausbesitzer ein bisschen besser. Denke ich jedenfalls, denn anders kann ich mir seine plötzliche Kehrtwendung nicht erklären. Jedenfalls ruft er mich gestern mit einem Mal an und sagt, er würde in zwei Wochen freiwillig ausziehen. In zwei Wochen!“, jubelt sie.
„Mann, klasse!!“, rufe ich begeistert aus. Tatsache ist, dass die spanische Regierung vor ein paar Jahren ein paar seltsame Gesetze erlassen hat, um finanziell benachteiligte Menschen zu schützen. Blöderweise haben sie damit Hausbesetzern Tür und Tor geöffnet. Da ziehen teilweise sogar professionelle Banden durch die Gegend, suchen Häuser und Wohnungen aus, die gerade leer stehen und „vermitteln“ sie gegen eine „geringe Gebühr“ an Hausbesetzer. Besagte Hausbesetzer ziehen ein, tauschen die Schlösser aus und schon steht der eigentliche Besitzer machtlos da und kann im Prinzip nichts tun, um sein Eigentum zurückzubekommen. Gut, man kann Anzeige erstatten, aber das dauert Jahre, bis sich da etwas tut. Wenn sich überhaupt was tut.
„Ja, ich bin auch so was von froh.“, reißt mich Fiona aus meinen Gedanken. „Wegen dieses Mistkerls bin ich nämlich finanziell echt in der Klemme und diese Firma, die säumige Mieter auf die Straße setzt, wäre wahnsinnig teuer geworden, ein Anwalt auch. Mir ist auch völlig egal, dass ich von den noch ausstehenden Mieten keinen Cent sehen werde. Hauptsache, ich bekomme das Haus endlich zurück. Verdammt. Jedenfalls hat Laura mich heute regelrecht angegriffen, weil ich ihr nichts davon erzählt hätte!! Dabei wollte ich es ihr die ganze Zeit über erzählen, aber sie hat mich ja nie, nie, nie zu Wort kommen lassen! Und als sie heute mit ihren Vorwürfen kam, ist mir der Kragen geplatzt. Ich habe ihr an den Kopf geworfen, dass sie mich nie zu Wort kommen lässt. Da behauptet sie doch glatt, es wäre genau umgekehrt. Ich wäre diejenige, die ohne Unterlass reden und nie jemanden zu Wort kommen lassen würde. Also ehrlich, wie findest du DAS??!!“
„Oweia.“, kann ich nur knapp einwerfen, denn Fiona ist gerade so richtig schön in Fahrt und fährt auch schon fort: „Das hat sie tatsächlich gesagt! Das gibt es doch wohl nicht!! Was denkst du, niña?“
„Na ja,“, sage ich vorsichtig, „es ist nicht das erste Mal, dass du mir davon erzählst, wie du mit Laura etwas besprechen möchtest und nicht kannst, weil sie selbst so randvoll mit allen möglichen Dingen ist, die sie bei dir loswerden will.“ Ich habe das Gefühl, mich gerade auf extrem dünnes Eis zu begeben, weshalb ich seeeehr vorsichtig bin.
„Übrigens …“, werfe ich als Nächstes in Fionas Redestrom ein, um dem Gespräch, nachdem sie jetzt erst mal so richtig Dampf abgelassen hat, eine leichte Wendung zu geben: „Ich habe dir doch erzählt, dass ich über Facebook eine alte Schulfreundin wiedergefunden habe, die Astrologin ist, richtig?“ Ich habe tatsächlich eine Freundin aus Schultagen in Facebook gefunden und folge jetzt ihrem Podcast.
„Jedenfalls hat sie für dieses Wochenende vorausgesagt, dass wir uns einerseits alle sehr energiegeladen fühlen werden, andererseits aber auch dazu neigen würden, streitlustig zu sein.“ Auf Krawall gebürstet eben …
„Ha! Das gibt’s doch nicht!!! Genauso fühle ich mich!“, schallt es mir nun aus dem Handy entgegen. „Super energiegeladen, aber auch megaverärgert!!!“ Ich muss grinsen, denn sie sagt das fast schon mit Begeisterung, während sie sich, wie sie mir ankündigt, ein weiteres Glas Wein einschenkt.
Doch nachdem sie jede Menge Dampf abgelassen und wir alles noch einmal durchgekaut haben, beruhigt sie sich so langsam. Na ja, bis wir auf den conde zu sprechen kommen. Da zeigt sie sich wieder super energiegeladen und vor allem megaverärgert … Also sind weitere Beruhigungsreden meinerseits und ein neuerliches Glas Wein ihrerseits notwendig, um sie zu besänftigen.
Nachtrag Mai 2024:
Ende Januar 2023, also nur wenige Wochen später, ist der säumige Mieter tatsächlich ausgezogen – und hat dabei alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Fiona hat mehrere Monate damit zugebracht, Dinge wie Waschmaschine und ähnliches zu ersetzen und das Haus zu streichen. Sie war noch gar nicht fertig mit der Renovierung und hatte eigentlich geplant, das Haus danach zu verkaufen, als ihr damaliger (und jetzt ehemaliger) Anwalt gegen ihren Willen im Frühsommer 2023 eine Familie in das Haus setzte. Während Fiona immer wieder protestierte und verlangte, dass die Leute das Haus verlassen, versuchte der Anwalt, Fiona zur Unterschrift auf irgendwelchen Papieren zu nötigen. Glücklicherweise weigerte sie sich standhaft, denn sie wollte keine Mieter im Haus haben, sondern einfach nur fertig renovieren und dann verkaufen. Nachdem dieser Anwalt sie immer nur vertröstete und sich geradezu über sie lustig machte, ging sie zu zwei weiteren Anwälten. Aber vergeblich. Keiner der anderen Anwälte wollte sich gegen einen ‚Kollegen‘ stellen. Eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus, nicht wahr? Zu guter Letzt suchte sie einen dritten Anwalt auf, der ihr klipp und klar erklärte, dass der allererste Rechtsverdreher ihr ein paar ganz üble Fallen gestellt hätte und sie kurz davor sei, das Haus komplett zu verlieren. Nach Aussage des neuen Anwalts handelt es sich um einen Betrug wie aus dem Lehrbuch. Ganz nebenbei hat sie von weiteren Fällen erfahren, in denen jener Winkeladvokat Leute um ihre Häuser und ihr Erspartes gebracht hat. Glücklicherweise ist ihr neuer Anwalt dazu bereit gegen diesen Kerl vorzugehen und hat Anzeige gegen ihn erstattet.
Fiona kämpft jetzt seit fast einem Jahr darum, ihr Haus wiederzubekommen. Angesichts der Situation (und Fiona ist beileibe nicht der einzige Fall, den ich kenne) kann ich nur ungläubig mit dem Kopf schütteln. Vor zwei Jahren ging der Fall einer in Arcos de la Frontera lebenden Irin durch die gesamte Presse. Sie wurde Witwe und besuchte drei Monate lang ihre Familie in Irland, um mit der Trauer besser fertig zu werden. Als sie zurückkam, war ihr Haus besetzt. Einfach so. Sie kam nach Hause und musste feststellen, dass sie kein Zuhause mehr hatte. Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig, als in ein Hotel zu ziehen. Zuletzt bekam sie ihr Haus zwar zurück, aber nur nach hohen Kosten, und unter großen Schwierigkeiten.
Man kann sich auch mal spaßeshalber Immobilienanzeigen anschauen: Da werden teilweise Wohnungen oder Häuser angeboten, die aber „derzeit bewohnt sind und nicht besichtigt werden können.“ Im Klartext heißt das, sie sind in Händen von Hausbesetzern, denn ein normaler Mieter würde einer Besichtigung zustimmen. Aber bei Hausbesetzern hat der Eigentümer keine Chance, auch nur einen Fuß in die Wohnung oder das Haus zu setzen. Der Käufer kauft demnach die Katze im Sack. Er hat keine Ahnung, wie das Objekt aussieht und in welchem Zustand es ist. Sollte er es tatsächlich schaffen, die Besetzer hinauszukomplimentieren (manche lassen sich gerne „Entschädigungen“ im fünfstelligen Bereich zahlen, damit sie gehen), kommen höchstwahrscheinlich noch hohe Renovierungskosten und ähnliches auf ihn zu.
Angesichts all dessen wundert es nicht, dass Vermieter heute praktisch von der Geburtsurkunde bis zum neuesten Röntgenbild alles sehen wollen, bevor sie vermieten. Und selbst das ist für sie keine Garantie. Fiona hält mich auf dem Laufenden, während ich immer nur ungläubig den Kopf schütteln kann. Ansonsten drücke ich ganz fest die Daumen, dass Fiona es schafft und ihr Haus retten kann.
