Gruppenwochenende

Die petardos haben in der Nachbarstadt Conil, ein Ferienhaus für das Wochenende gemietet. Jep, wir veranstalten ein Gruppenwochenende. Heute, Freitag, geht es los. Einige von uns kommen erst morgen, aber der größte Teil wird heute um die Mittagszeit in Conil eintrudeln. Wer einen Hund hat, wird ihn mitbringen, Peluche ist also mit von der Partie.

Ich schaue mich noch einmal kurz um. Meiner Katze Cielo habe ich im Hauswirtschaftsraum eine riesige Schüssel Futter hingestellt. Da kann sie locker durch die Katzenklappe rein und raus. Außerdem hat sie dort einen weiteren Schlafplatz, falls es ihr danach gelüstet, trotz der noch warmen Sommernächte lieber drinnen als draußen zu schlafen.

Jetzt noch schnell unseren Gruppenchat aufrufen, bis zu der Standortangabe blättern, die Ricardo uns geschickt hat, das GPS meines Handys einschalten, und los geht‘s. Zu meiner allergrößten Verwunderung leitet mich das GPS über mir völlig unbekannte Straßen und Wege und nicht über die Strecke, über die man normalerweise nach Conil gelangt.

Mein Telefon klingelt. Fiona.

„Lia! Ich weiß nicht, wo ich hin muss! Kannst du mich hier in El Colorado an der Tankstelle abholen?“

El Colorado ist eine Mischung aus Wohngebiet, landwirtschaftlicher Kleinindustrie und Geschäften und gehört, soweit ich weiß, zur Gemeinde Conil. Das Gebiet liegt genau zwischen Chiclana und Conil, und man erreicht es locker über die alte Nationalstraße, die von Chiclana durch El Colorado bis nach, na eben Conil führt. Allerdings befinde ich mich ja wider Erwarten nicht auf dieser Straße, wie ich eben festgestellt habe. Ich habe eher das Gefühl, dass ich irgendwie parallel zu der alten Nationalstraße fahre, aber ich kann sie nirgendwo sehen.

„Ich habe keine Ahnung wo ich bin!!“, jammere ich daher lauthals und völlig ratlos in den Lautsprecher meiner Freisprechanlage.

„Dieses verflixte GPS hat mich keine Ahnung wohin geleitet. Ich fahre hier über irgendwelche Straßen, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie überhaupt existieren!! Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wo ich bin!!“

„Aber, das ist doch ganz einfach. Wenn du zurückfährst und dann ganz normal nach El Colorado und mich an der Tankstelle abholst …“, schlägt Fiona zuversichtlich vor.

„Fiona!! Ich kann nicht nach El Colorado fahren!! Ich habe keine Ahnung wo ich bin!! Ich kann nur bis zum Haus fahren und dort dann umkehren. Denn genau in diesem Moment bin ich auf irgendeiner gottverlassenen Landstraße, auf der ich nicht einmal drehen kann! Warum verwendest du denn nicht das GPS von deinem Handy?“

„Ich weiß doch nicht, wie das funktioniert!“, wendet sie jetzt mindestens genauso verzweifelt wie ich ein. Ich gebe ihr eine kurze Beschreibung:

„Geh in unseren Gruppenchat! Tipp auf die Standortangabe und dann auf como llegar und auf iniciar“!

„Neeeiiinn!“, jault sie los. „Das ist mir zu kompliziert!! Hol mich ab!! Biiiitttteeeee!“

„Ich weiß aber nicht, wo ich bin!!!“, jaule ich genauso zurück. „Ich fahre zum Haus, drehe dort um und hole dich dann, ok?“ Mit diesen Worten lege ich auf, denn gerade trötet mein GPS wieder mit irgendwelchen neuen Anweisungen los.

Doch dann überlege ich einen Moment und halte kurzerhand mitten auf dieser Landstraße ohne Seitenstreifen (und zum Glück auch ohne Verkehr), tippe auf unseren Gruppenchat und schicke ein Audio los:

„Kann irgendjemand Fiona in El Colorado abholen, bitte?? Ich habe keine Ahnung wo ich bin, das GPS hat mich über mir völlig unbekannte Straßen geleitet, sodass ich gar nicht durch El Colorado komme. Ich fahre jetzt zum Haus und schaue wo das überhaupt ist. Wenn niemand Fiona abholen kann, fahre ich danach zurück und hole sie. Aber wenn einer von euch schon unterwegs ist und durch El Colorado kommt, bitte holt sie an der Tankstelle ab.“

„Keine Sorge, Lia.“, kommt sofort von Sergio zurück. „Wir sind unterwegs, wir holen sie.“

Zehn Minuten später, ich kreuze immer noch auf den Landstraßen von irgendwo nach nirgendwo, kommt eine Nachricht von Fiona im Gruppenchat an:

„Danke Sergio, nicht mehr nötig! Ricardo hat mich schon gerettet und hier abgeholt!“ Uff, das Problem wäre gelöst.

Das GPS leitet mich schließlich in eine kleine Seitenstraße. Die meisten der Häuser hier scheinen Ferienhäuser zu sein, und es sieht ganz danach aus, als wäre ich schon fast da. Ich biege in eine weitere Straße ab, als aus irgendeinem unerfindlichen Grund plötzlich die Futterschüssel von Cielo vor meinem geistigen Auge erscheint. Die Futterschüssel. Im Hauswirtschaftsraum. Futter ja. Wasser nein. Keine Wasserschüssel! Sie säuft normalerweise aus Peluches Wasserschüssel, aber die liegt heute hier im Auto!!!

„Verdaaaammmt!!!“, schreie ich laut auf. „Das gibt’s doch nicht!! Ich hab‘ vergessen, Cielo Wasser hinzustellen!!“ Ich donnere mit meinem Kopf auf mein Lenkrad, nur um mir einfach so zur Abwechslung mal nicht mit der Hand gegen die Stirn zu klatschen.

In dem Moment signalisiert mir mein GPS, dass ich beim Haus angekommen bin. Äh, und jetzt? Ich sende in meinem schönsten selbstironischen Ton ein Audio an die Gruppe:

„Ok, ich bin hier am Haus angekommen. Sieht soweit gut aus. Aber ich habe vergessen, meiner Katze Wasser hinzustellen. Das heißt, ich muss jetzt nach Hause zurück. Es hat also keinen Sinn, wenn ich jetzt nach der Vermieterin suche und mir den Schlüssel geben lasse, denn bis ich nach Hause und wieder hier hin zurückgefahren bin, seid ihr längst angekommen und steht ohne Schlüssel da. Tja, alsooo, ich fahre dann jetzt erst mal wieder nach Hause zurück.“

Ricardo sendet eine neue Standortangabe, weil sich die Vermieterin beim ersten Mal anscheinend vertan hat. Ach, dann bin ich vielleicht gar nicht beim richtigen Haus?

Als nächstes kommt ein Audio von Ana, die laut prustet „Lia, das ist einfach phantastisch. Wie ich sehe, bleibst du dir treu!“ Äh, ja, neulich das Fiasko, als sowohl Fiona als auch ich unsere Eintrittskarten für das Tribute-toQueen-Konzert zuhause gelassen hatten. Und jetzt das Wasserfiasko. Ich verstehe, was sie meint.

„Wir sehen uns dann nachher!“, verabschiedet sie sich immer noch laut lachend.

Ich drehe um, stelle das GPS auf mein Wohngebiet ein und lasse mich wieder über diese endlosen Landstraßen lotsen, während ich immer noch den Kopf über mich selbst schüttle und abwechselnd hilflos lache oder „Echt das gibt’s doch nicht, da habe ich tatsächlich das Wasser vergessen“ laut von mir gebe. Peluche schaut mich aus dem hinteren Teil des Wagens ein bisschen erstaunt an und hechelt etwas. Hecheln würde ich am liebsten auch, wenn das was bringen würde. Ehrlich, so viel Organisation, so viel Vorbereitung, so vieles bedacht, und dann vergesse ich das dämliche Wasser!!!

Ich bin kurz vor meinem Ziel, als Vicky mich anruft:

„Wo bist du?“

„Auf dem Weg zurück nach Hause. Ich habe vergessen, Cielo Wasser hinzustellen.“, schnaube ich halb belustigt, halb verzweifelt. Sie scheint den Gruppenchat nicht abgehört zu haben.

„Können wir uns bei dir treffen, und ich fahre dann hinter dir her? Ich habe nämlich keine Ahnung, wo das Haus ist.“, bittet sie mich nun.

„Klar, kein Problem. Wir können uns oben am Eingang zu meiner Straße auf dem Parkplatz vor der Kneipe treffen.“ Ist tatsächlich überhaupt kein Problem, denn den Weg kenne ich ja nun mittlerweile. Da kann ich auch Fremdenführerin spielen – sozusagen.

„Oh, prima.“, unterbricht Vicky meine abschweifenden Gedanken.

„Wo bist du denn?“

„Noch auf der Autobahn. Bin aber gleich da.“

Zuhause angekommen springe ich schnell aus dem Auto, schließe das Tor auf und rase blitzschnell in den Hauswirtschaftsraum. Supergroße Schüssel geschnappt, randvoll mit Wasser gefüllt, neben die volle Futterschüssel gestellt und wieder ab zurück ins Auto.

„Ich bin hier.“, kommt wenige Minuten später ein Audio von Vicky.

„Alles klar, bin in einer Minute da.“, antworte ich, während ich den Wagen wende.

Auf dem Parkplatz verabreden wir nach einer kurzen Begrüßung, dass sie hinter mir herfährt. Ich schalte wieder das GPS ein, verwende aber dieses Mal jedoch die neue Standortangabe von Ricardo. Zunächst sind die Straßen, über die mich das GPS lotst, dieselben wie beim ersten Mal, doch dann soll ich plötzlich statt nach links nach rechts abbiegen, und schon wird alles wieder unbekannt. Bis ich mich plötzlich mitten im Zentrum von Conil wiederfinde. Ach. Du. Schande.

Ich halte kurz an einer Bushaltestelle an, setze den Warnblinker, warte bis Vicky hinter mir hält und sprinte dann zu ihrem Auto hinüber.

„Ich habe keine Ahnung, wieso wir jetzt hier sind.“, gebe ich zu, während sie mich erstaunt anschaut. „Ricardo hat eine neue Standortangabe geschickt, und das GPS hat mich jetzt ganz anders geleitet als beim ersten Mal!“, sage ich leicht verzweifelt. „Ich schlage aber vor, äh, wir folgen dem GPS. Ok?“

Vicky nickt nur mit großen Augen und muss sich das Lachen verbeißen. Sich verfahren, das hätte sie ja nun auch ganz ohne meine Hilfe schaffen können. Der Clou war ja, sich nicht zu verfahren.

Tatsächlich leitet uns das GPS quer durch ganz Conil und auf eine Landstraße, auf der ich plötzlich einen Baumarkt sehe, der mir doch sehr bekannt vorkommt. Ha! Genau der Baumarkt, an dem ich vorhin in die Seitenstraße zum Haus abgebogen bin. Und jetzt schickt mich dieses vermaledeite GPS doch schon wieder in diese Seitenstraße und lässt mich auch wieder vor demselben Haus halten. Wo genau hatte sich die Vermieterin denn dann vertan? Warum diese zweite Standortangabe? Ach, egal. Hauptsache wir sind endlich da.

Der Rest des Wochenendes verläuft soweit super. Es ist noch warm genug, um in den Pool zu springen und eine Runde zu schwimmen. Fiona und Ricardo machen eine Paella, dann bauen wir Ricardos Karaoke und mein kleines Notebook mit der Playlist zum Tanzen auf.

Die einzige Flasche Rotwein, die wir mitgebracht haben, fällt natürlich prompt hin und geht kaputt, weshalb Putzen angesagt ist. Peluche und Vickys Hund, Ella Fitzgerald (oder kurz Ella), verstehen sich prima – alles läuft bestens. Wir essen zu Abend, tanzen, singen, quatschen und wischen abwechselnd Rotwein und Hundepipi auf.

Gegen zwei wird die ganze Mannschaft müde, und jeder verschwindet in das ihm zugewiesene Schlafzimmer und Bett. Bisher war alles super, doch die Nacht entwickelt sich für mich zu einem echten Problem. Ich hatte mir ausgemalt, dass Peluche ganz ruhig neben dem Bett schlafen würde, aber da hatte ich die Rechnung ohne meinen Hund gemacht. Vicky hat ihren Hund nach oben in das Dreibettzimmer geschleppt, das sie sich heute mit Fiona und morgen dann mit Fiona und Silvia oder Ángeles teilen wird, und Ella schläft auch ganz brav oben neben Frauchens Bett.

Peluche dagegen winselt die ganze Nacht, weil sie es nicht gewöhnt ist, außer Haus zu schlafen, und tapst die gesamte Zeit über im Zimmer herum. Dazu wälze ich mich die ganze Nacht hin und her, weil die Matratze eine Katastrophe und nebenbei auch noch wahnsinnig laut ist. Zusammen mit Peluches Gewinsel ergibt das in meinem Zimmer ein nächtliches Konzert, durch das ich am nächsten Morgen so gerädert bin, dass ich entscheide, die nächste Nacht auf jeden Fall zuhause zu verbringen. Wenn alle zu Bett gehen, werde ich Peluche ins Auto packen und erst am folgenden Morgen zum Frühstück wiederkommen. Zumal heute Silvia und Ángeles kommen, da müsste ich mir das Doppelbett mit jemand anderem teilen, was bedeutet, dass zwei Leute von Peluches Gewinsel wahnsinnig werden.

Nach dem Frühstück gehen ein paar von uns spazieren, andere wollen noch etwas einkaufen, Fiona hat etwas für Laura zu erledigen, diejenigen, die heute ankommen wollten, sind noch nicht da, und so finde ich mich plötzlich allein im Haus wieder. Ich entscheide, mich an den Pool zu legen, zu lesen und insgesamt so richtig schön zu faulenzen. Eine Runde Schwimmen ist das Äußerste, das ich zustande bringe, der Rest sind ein weiterer Kaffee und ein gutes Buch. Peluche und Ella wuseln irgendwo herum, und alles ist unglaublich friedlich. Ich lasse den Roman Roman sein, schieße ein paar Selfies und döse schließlich ein bisschen vor mich hin.

So nach und nach trudeln alle anderen wieder ein, und das gemeinsame Mittagessen wird in Angriff genommen.

Nach dem Essen, zum Nachmittagstee sozusagen, macht Vicky Mojitos für uns alle. Kaum sind die Mojitos getrunken, versinkt auch schon die Hälfte der Gruppe im Mittagsschläfchen. Am späten Nachmittag tauchen Ángeles und Silvia auf. Silvia hat ebenfalls ihren Hund dabei, und der kleine Wicht klebt die ganze Zeit mit der Nase an Peluches Hinterteil, die mit ihren siebenundvierzig Kilo weitaus größer ist als er. Aber statt ihn einfach mal anzublaffen, nimmt sie nur voller Schreck Reißaus.

Fiona taucht erst abends gegen neun wieder auf. Ich habe bereits allgemein bekannt gegeben, dass ich später, wenn alle zu Bett gehen wollen, nach Hause fahren, dort übernachten und erst zum Frühstück am nächsten Tag wiederkommen werde. Mein Zeug habe ich auch schon mal zusammengepackt.

Doch als Fiona auftaucht, macht sie ein absolut entsetztes Gesicht:

„Da draußen herrscht ein unglaublicher Nebel, man sieht absolut nichts. Es ist eine völlige Katastrophe. Ein Wunder, dass ich überhaupt wieder hierher gefunden habe.“

Als sie erfährt, dass ich vorhabe, zuhause zu übernachten, drängt sie mich, da zu bleiben.

„Wirklich, es ist ein Wahnsinnsnebel da draußen! Bleib um Himmels willen hier!“

Aber mein Entschluss steht fest, denn die unbequeme und laut quietschende Matratze zusammen mit dem laut quietschenden Hund sind mir für eine weitere Nacht einfach zu viel. Allerdings lasse ich mich durch die Nebelgeschichte doch ein bisschen verunsichern und entscheide, lieber sofort loszufahren und nicht erst sehr viel später, wenn ich müde bin.

Ich verabschiede mich daher von allen, schnappe mir Peluche, schalte wieder das GPS ein und mache mich auf den Heimweg.

Nebel.

Nebel …

Nebel?

Äh, nö.

Na ja, hier und da mal ein kleiner Nebelfetzen, aber ansonsten? Entweder hat sich der Nebel schon verzogen, oder es liegt an Fionas Nachtsicht oder daran, dass ich unter Nebel schlicht etwas anderes verstehe und gewöhnt bin. Aber bis etwa zwei Kilometer vor meinem Zuhause ist praktisch überhaupt kein Nebel. Und auf den letzten zwei Kilometern ist es auch nicht besonders wild. Ich habe immer noch rund zweihundert Meter Sicht. Da hätte ich auch länger in Conil bleiben und den Abend genießen können. Mist.

Endlich zuhause angekommen, lade ich alles aus, während Peluche glücklich herumspringt. Die Sachen sind schnell weggeräumt, und schon falle ich ins Bett und schlafe tief und fest bis zum nächsten Morgen. Himmlisches Bett, himmlische Matratze, himmlische Ruhe. Aber auch himmlische Gruppe, himmlisches Wochenende, himmlischer Spaß.

Am folgenden Montag gesteht mir Fiona: „Als ich nach unserem Gruppenwochenende nach Hause kam, habe ich mich aufs Sofa gesetzt und geheult. Ich habe euch alle so schrecklich vermisst.“ Ich kann sie verstehen, das Wochenende war toll, wir haben uns alle großartig verstanden. 2023 wollten wir ein weiteres Gruppenwochenende veranstalten, aber daraus wurde nichts. Vielleicht schaffen wir es ja 2024 endlich wieder, obwohl sich mittlerweile vieles in der Gruppe geändert hat. Einige von uns haben jetzt Partner, andere sind frischgebackene Großeltern, wieder andere haben den Verlust eines Elternteils zu beklagen. Im Moment trifft sich die Gruppe fast nur noch zu Beerdigungen. Manche Dinge sind einmalig. Ob das Gruppenwochenende auch so eine einmalige Sache war? Zeitpunkt, Situation, Gelegenheit – es hat einfach alles gestimmt.