Das Haus ist groß

Januar 2023.

Der Januar ist so verflixt kalt, dass wir alle in eine Art Winterschlaf gefallen sind. Doch an einem Samstag meldet sich Ricardo plötzlich in der Gruppe und fragt, ob denn niemand was vorhat. Er selbst hat eine Verabredung mit seiner neuen Freundin, aber erst um halb neun, es sind noch drei Stunden Zeit bis dahin. Ich selbst jaule auch in der Gruppe, weil mir langsam die Decke auf den Kopf fällt, und so treffen Vicky, ein Freund von ihr, Ricardo und ich uns im Varadero auf einen Kaffee. Im Moment spielt noch eine Band, und Vicky und ich gehen tanzen. Plötzlich dreht sich ein Mann vor uns um, schaut uns an und beginnt, mit uns zu tanzen. Mit Vicky sogar Salsa. Doch sie wehrt schnell ab und verweist ihn an mich. Na danke auch.

In den Pausen zwischen den Liedern wechseln wir ein paar Worte. Es stellt sich heraus, dass er Rodrigo heißt, in Brasilien geboren und in Portugal aufgewachsen ist. Er lebt jetzt seit etwa einem Jahr in Chiclana. Er möchte uns seine Telefonnummer geben, damit wir ihn anrufen können, wann immer wir wollen. „Nur Freundschaft“, betont er. Keine Ahnung wie Vicky es dreht, aber am Ende zieht er mit meiner Telefonnummer davon. Doch da ich drei Wochen lang nichts von ihm höre, denke ich mir entspannt, dass die Sache abgehakt ist.

Doch dann erhalte ich drei Wochen später eine Nachricht von diesem Rodrigo, ob wir uns nicht auf einen Kaffee treffen können?

Mir fällt gerade die Decke auf den Kopf, ein Kaffee unten am Strand würde mir guttun. Und er sucht ja nur Freunde, also kein Problem. Tatsächlich entpuppt Rodrigo sich dann auch als sehr angenehmer Gesprächspartner. Wir hocken in der Abeja Maya und reden über Gott und die Welt. Blöd nur, dass er dann doch in den Flirtmodus schaltet und auch gleich auf Hochtouren. Es ist viel zu offensichtlich. Schließlich frage ich ihn nach seinem Alter.

„Rate mal.“, sagt er lächelnd. Hm, in seinem Bart sind ein paar vereinzelte weiße Haare und vorher hat er etwas über seine Mutter und ‚vor vierzig Jahren‘ gesagt.

„Vierzig?“, tippe ich daher.

„Zweiundvierzig“, lächelt er geschmeichelt und stellt dann natürlich die unvermeidliche Gegenfrage: „Und du?“ Hahaha, er ahnt ja nicht, was jetzt kommen wird.

„Rate mal“, bin ich jetzt mit Lächeln dran. Ich bin fies, ich weiß.

„Dreiundvierzig?“, gibt Rodrigo sich galant.

„Nein.“, grinse ich.

„Vierundvierzig?“

„Nein.“

„Fünfundvierzig?“

„Nein.“

So geht es eine Weile weiter, er geht ganz gentlemanlike und äußerst vorsichtig immer nur ein Jahr vorwärts. Doch je höher er kommt, umso größer werden seine Augen und mein Grinsen immer breiter.

Bei „Fünfundfünfzig“ gibt er schließlich auf, und ich antworte darauf nur „Sechsundfünfzig“.

Erneut ganz Gentleman sagt er nur: „Du siehst viel jünger aus. So siebenundvierzig oder achtundvierzig vielleicht. Außerdem ist das Alter ja ohnehin nur eine Zahl, die wir im Kopf haben!“ Süß von ihm und auch sehr elegant. Überhaupt ist er insgesamt ziemlich süß, und es ist natürlich auch ausgesprochen schmeichelhaft und hebt das Ego, schon zum zweiten Mal von einem so viel jüngeren Mann angeflirtet zu werden. Allerdings … will heute niemand mehr einen Partner im eigenen Alter? Und im Übrigen bin ich ja mit Ben zusammen.

Irgendwie kommt die Sprache darauf, dass er einen Hund hat, und ich frage nach einem Foto. „Ha, ich habe sogar ein Video!“, sagt er stolz und zeigt mir auch sofort ein kurzes Video, auf dem seine Kinder mit dem Hund spielen. Er hatte mir zwar gesagt, dass er zwei Kinder im Alter von sieben und neun hat, aber ich wusste nicht, dass die Kinder bei ihm sind und so frage ich ihn danach:

„Dann hast du also die Kinder, ja?“

„Nein, ihre Mutter hat sie.“

„Ach, dann ist ihre Mutter auch hier in Chiclana?“

„Ja“

„Ist sie Spanierin?“

„Nein, sie ist, genau wie ich, aus Brasilien und in Portugal aufgewachsen.“

„Aber sie ist hier in Chiclana?“

„Ja, sie ist für sechs Monate zu Besuch gekommen und dann geblieben.“

Äh, Moment mal, hatte ich da irgendwas nicht mitbekommen? Hatte er anfangs nicht gesagt, er wäre geschieden oder getrennt oder so? Ich frage erneut nach:

„Dann wohnt ihr zusammen?“

„Jaaa, aber das Haus ist groß.“, winkt er ab. Ich glaub’s ja nicht.

„Du bist was? Getrennt? Geschieden?“

„Ich weiß es nicht.“

„Äh, ihr lebt zusammen wie Freunde?“

„Ehrlich, keine Ahnung. Ich weiß nicht, was wir sind oder was wir haben.“

„Aha“, mache ich nur nickend und denke mir, innerlich kopfschüttelnd, dass das mal wieder eine Erfahrung der außerirdischen Art sein muss..