Mein ganzes Leben lang schon geht meine Phantasie mit mir durch. Bereits als Kind habe ich mir die unglaublichsten Dinge zurechtgesponnen, mich vielstimmig mit meinen Puppen unterhalten und mir ganze Welten ausgedacht. Heute stelle ich mir immer noch irgendwelche haarsträubenden Situationen vor und tauche dabei so tief in meine Spinnereien ein, dass ich je nach Fall entweder laut lache oder spontan losheule. Es hilft auch nicht gerade, dass mein Gesicht dabei meine Gedanken ausdrückt: Wenn ich mit einem Kaffee auf irgendeiner Terrasse sitze und plötzlich merke, wie alle um mich herum auffällig unauffällig von mir abrücken, dann weiß ich, dass ich wieder alle möglichen Gesichter geschnitten habe.

Mit einem Tom-und-Jerry-Comic habe ich Lesen gelernt. Mein allererstes Buch war ein Band von Enid Blyton. Seitdem liebe ich das Lesen. Allerdings war mein erster Deutschaufsatz eine Katastrophe, ich hatte keine Ahnung, was die Lehrerin eigentlich von mir wollte. Als ich mit der Note vier nach Hause kam, setzte sich meine Mom mit mir hin und erklärte mir, wie man etwas schöner und anders und wieder anders formulieren kann. Dann nahm mich mein Dad beiseite, zeigte mir einen Apfel und sagte: „Beschreib mir diesen Apfel.“ „Na, ein Apfel halt.“, zuckte ich immer noch einigermaßen ratlos mit den Schultern. „Und was noch?“ „Er ist grün.“, lautete meine erschöpfende Auskunft. „Grün, mit ein bisschen Gelb.“, deutete mein Dad auf den Apfel. „Er hat ein paar braune Sprenkel, einen Stängel.“ Hm.
Ich habe absolut keine Ahnung, wann und wo es genau Klick in meinem Kopf gemacht hat, ob an diesem Nachmittag oder erst beim nächsten Aufsatz. Aber auf einmal war es, als hätte jemand eine Tür geöffnet. Meine Phantasie galoppierte los und diese Art von Klassenarbeiten war ab sofort kein Problem mehr. Ich füllte Seite um Seite und liebe seitdem auch das Schreiben. Na ja, das ging so lange gut, bis das Schreiben von Berichten auf dem Lehrplan stand und ich mich mit einem Mal kurzfassen musste. Aus dem grünen Apfel mit gelblichen Flecken, den ein rotes Bäckchen und ein neckischer kleiner Stängel sowie mehrere winzige bräunliche Punkte zierten und der in all seiner Pracht und Reife unerwartet vom hohen weißen Esstisch heruntergefallen und in Schlangenlinien über den unebenen Boden gerollt war, dabei ein paar Teppichfransen gestreift hatte, um schließlich vor der hellblauen Esszimmertür aus Holz liegen zu bleiben, wurde plötzlich wieder ganz kurz und bündig ein simpler Apfel, der heruntergefallen war. Das ging jetzt genauso wenig in meinen Kopf wie Mathe, Chemie und Physik.

Im Grunde hat sich daran bis heute nichts geändert. Meine WhatsApp-Nachrichten und E-Mails sind endlos, und ohne Taschenrechner bin ich aufgeschmissen. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie lange ein Lkw braucht, der um 08.50 Uhr mit 120 km/h und 7,5 Tonnen Gewicht von Paderborn nach München fährt, und wie lange ein Transporter, der um 10.50 Uhr mit 80 km/h und 3 Tonnen Gewicht von Berlin nach Hamburg fährt. Wer eher ankommt? Keinen Schimmer. Wie man das ausrechnet? Auch keinen Schimmer. Ich kann aber stolz verkünden, dass ich sehr genau weiß, dass Dreisatz etwas mit Mathe zu tun hat und nicht mit Grammatik.

Die Antworten meiner Freunde auf meine umfassenden WhatsApp-Nachrichten lauten in der Regel „Ok“ oder „Alles klar“. Wahrscheinlich hatten sie richtig gute Noten, als sie in der Schule knappe Berichte schreiben sollten … Ich dagegen könnte bei diesen Antworten jedes Mal die Wände hoch- und runtergaloppieren, vor allem, wenn sie mich danach etwas fragen, was ich eigentlich schon in meiner ellenlangen ersten Nachricht erklärt hatte. Aber ich erkläre natürlich gerne alles noch einmal – und selbstverständlich wieder in der gleichen Länge. Dafür sind Freunde schließlich da.
Was gibt es noch über mich zu sagen? Hm. Also, großartig Kochen kann ich immer noch nicht, aber zu meinem großen Glück habe ich wieder jemanden an meiner Seite, der ein phantastischer Koch ist. Mein Magen ist somit gerettet. Und Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen … Ich backe ihm dafür auch ab und zu einen Kuchen – zum Beispiel Esperanzas bizcocho. Die Eier habe ich bisher nie wieder vergessen.
Ich gehe weiterhin zur Gesangsstunde, und irgendwo in meinem Gehirn kräht immer noch ein Stimmchen: „Au ja in einer Band singen!“ Ich habe aber noch keine gefunden, die mich aufnehmen will. Doch was nicht ist, kann ja noch werden …


Interessanterweise habe ich mir Fionas Pünktlichkeit angewöhnt. Neulich rief sie an und fragte: “Wo steckst du?” Meine Antwort lautete natürlich: “Estoy de camino“. Als ich schließlich ankam, sagte sie nur fassungslos den Kopf schüttelnd: “Du hast dich wirklich angepasst, hu? Musstest du unbedingt diese Angewohnheit übernehmen?” Tja.
Wenn wir nicht mit den Petardos irgendwohin zum Tanzen ausgegangen sind und ich auch nicht mit Fiona im Kreis auf irgendwelchen mir mehr oder weniger bekannt-unbekannten Autobahnen unterwegs bin, dann hocke ich meist am PC, um weiter über uns zu schreiben, oder ich sitze in irgendeiner Ecke mit einem XL-Kaffee, während sich mein Kopf im Lala-Land befindet. Solltet Ihr mich also in Chiclana an einem meiner Lieblingsorte sehen, während ich still vor mich hin Grimassen schneide – keine Sorge, ich sehe zwar vollkommen durchgeknallt aus, bin es aber noch nicht ganz. Oder?

