Kleiner Einschnitt

Demnächst werde ich einen Band mit Kurzgeschichten herausgeben – für alle, die mehr über Lia und Fiona wissen möchten. Natürlich werde ich auch weitere Geschichten hier im Blog veröffentlichen, aber heute möchte ich einen kleinen Einschnitt machen und über etwas schreiben, das mir vor Kurzem zu denken gegeben hat …

Vor etwa zwei Wochen haben mein Freund und ich ein paar Bekannte von ihm in El Puerto de Santa María besucht. Bei der Gelegenheit haben wir auch Bernhard getroffen, den wir im letzten Jahr flüchtig kennengelernt haben. Bei unserem Treffen vor zwei Wochen fragte er mich, wie ich eigentlich nach Spanien gekommen bin. Natürlich habe ich Pedro erwähnt – logisch. Nun macht sich Bernhard gerade große Sorgen um seine Tochter, denn sein Schwiegersohn ist seit Jahren schwer krank und es scheint sich jetzt dem Ende zuzuneigen. Bernhard schaute mich prüfend an, sah dann zu meinem Freund und wieder zurück zu mir und fragte mich: „Und man kann dann also tatsächlich noch mal von vorne anfangen und jemanden kennenlernen, ja?“

„Ja.“, antwortete ich schlicht.

„Hm.“, machte er und wollte dann wissen: „Und hast du aus dem Erlebten etwas für dich und dein Leben gelernt?“

Puh, ich hätte ihm jetzt stundenlang erzählen können, was ich alles gelernt habe – über das Leben, über mich selbst und so weiter und so fort. Aber ich sagte nur:

„Ja, jede Menge. Vor allem, das Leben zu genießen, ganz im Jetzt zu leben. Und mir weiter keine Gedanken um die Zukunft zu machen.“ Bernhard nickte nachdenklich. Darauf erzählte ich ihm von meinem Buch Witwen und beste Freundinnen.

„Aber man sollte beide Bände lesen, denn ursprünglich war es als ein einziger Band angelegt. Der Verlag meinte nur, für ein einziges Buch sei es ein bisschen zu lang und ich sollte es besser aufteilen. Aber wenn die Entwicklung verstehen willst, die ich durchgemacht habe, dann ist es besser, es im Ganzen zu lesen.“

„Und beschreibst du auch, wie die Angehörigen ebenfalls leiden?“, wollte er als Nächstes wissen. Ich verstand sofort, worauf er hinauswollte.

„Nein.“, schüttelte ich den Kopf. „Meine Geschichte beginnt in dem Moment, als ich mit der Urne nach Hause komme. Und ich beschreibe, wie ich von vielen Seiten Hilfe bekommen und schließlich meinen Weg gefunden habe.“

Seine Frage hat mir zu denken gegeben. Es stimmt, dass ich ursprünglich Pedros Krankengeschichte bis ins Detail aufschrieb. Ich schlug in den Krankenunterlagen nach, berichtete, wann welcher Arzt was gesagt hatte, welche Medikamente Pedro jeweils einnehmen musste und so weiter und so fort. Aber im Grunde will niemand so etwas lesen. Für mich war es wie eine Art Reinigung, aber jeder hat seine eigene Geschichte und braucht nicht auch noch über Pedros Leiden zu lesen.

Natürlich leiden die Angehörigen und Partner immer mit. Ich war teilweise sechsunddreißig Stunden auf den Beinen, bin nachts um eins vom Krankenhaus in Puerto Real nach Chiclana gefahren, um im hiesigen Krankenhaus irgendwelche Unterlagen abzuholen. Als ich vor dem Krankenhaus in Chiclana hielt, hatte ich keine Ahnung, wie ich überhaupt dorthin gekommen war. Absoluter Filmriss – ich konnte mich nicht mehr an die Autobahn und den Weg erinnern. Ich bin einfach wie auf Autopilot gefahren.

Selbstverständlich habe ich gelitten, als Pedro längere Zeit orientierungslos und eine Gefahr für sich selbst war, während uns die Ärzte immer nur abwimmelten und nach Hause schickten. Das wäre jetzt eben mein Schicksal, meinte einer nur lapidar zu mir, während ein anderer mir zum Glück riet, ihn sofort in das große Krankenhaus in Puerto Real zu bringen. Ich habe eine Krankenschwester organisiert, die mit mir ins Krankenhaus kam, um den Ärzten in der Notaufnahme ihre Einschätzung der Lage zu geben. Dazu hatte ich einen dreiseitigen Bericht über seine Orientierungslosigkeit verfasst. Wir saßen elf Stunden in der Notaufnahme, bis sie Pedro endlich ein Bett zuteilten. Pedro war innerhalb von sechs Monaten fünf Mal im Krankenhaus. Dabei saßen wir jedes Mal zwölf oder dreizehn Stunden in der Notaufnahme, wo die frischgebackenen Ärzte vor allem die Aufgabe zu haben schienen, möglichst viele Leute abzuwimmeln. Erst bei Pedros letztem Krankenhausaufenthalt hatten wir in der Notaufnahme mit einer jungen Ärztin zu tun, die sofort merkte, dass Pedros Fall ihre Kenntnisse und Erfahrung überschritt, und deshalb eine ältere Ärztin hinzuzog.

Von dem Spezialisten, der Pedro nach seinem ersten Aufenthalt in Puerto Real behandelte, will ich gar nicht erst anfangen. Er blockte jede meiner Fragen mit „Das ist noch zu früh“ ab, während sich seine Sprechstundenhilfe über mich lustig machte. Nach einem Blick auf Pedros gesammelte Krankenunterlagen, die ich vorsorglich mitgebracht hatte, drückte sie mir laut lachend mit den Worten „Ich sehe, du liebst Papier“ einen Zettel mit Ernährungstipps in die Hand, von denen mehr als die Hälfte nicht für Pedro galt. Ich hätte sie umbringen können.

Die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, das Gefühl, nicht zu den Ärzten durchzudringen, das Gefühl, einfach wahnsinnig zu werden – ja, ich habe das auch alles erlebt. Genau wie jeder andere, der in einer ähnlichen Situation ist. Ja, ich habe heulend im Auto gesessen oder laut schreiend. Manchmal habe ich so lange und so laut geschrien, bis mir der Hals wehtat. Trotzdem ließ die Anspannung nie nach. Ich war kontinuierlich wie unter Strom. Jetzt zu diesem Arzt, jetzt zum nächsten.

Ich sehe auch noch immer die lange Liste von Medikamenten, die er täglich nehmen musste. Morgens, vormittags, mittags, nachmittags, abends, nachts. Nach jedem Arztbesuch musste ich meine Liste wieder abändern, anpassen. Einen Tablettendosierer für all diese vielen Tabletten gab es nicht. In irgendeinem Laden habe ich winzige Frischhaltedosen gefunden, keine Ahnung wozu man diese Dinger benötigt, so winzig wie sie sind. Aber für die Tabletten waren sie hervorragend. Und so hatte ich insgesamt sechs Döschen in der Küche aufgereiht stehen, davor die sich ständig ändernde Liste. Jeden Abend vor dem Schlafengehen habe ich sie für den nächsten Tag gefüllt, denn Pedro konnte sich um all das nicht mehr kümmern.

Der Schock über die Diagnose, ein zu schwerfälliges Gesundheitssystem und Ärzte, die sich strikt ans Protokoll hielten, ohne zu sehen, dass es mit ihm kontinuierlich bergab ging, ein Krankenhausaufenthalt nach dem anderen, ein Arzt nach dem anderen, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht, der Stress, die vielen Medikamente, Windeln wechseln, den Verfall mit anzusehen – all das war schlimm. Doch richtig grausam war, zu sehen, wie Pedro litt. Nicht so sehr physisch (Schmerzen hatte er nur am letzten Tag), sondern psychisch: ein unabhängiger, freiheitsliebender Mensch, der plötzlich in allem von mir abhing. Für ihn war das unerträglich.

Kurz nach der Diagnose recherchierte ich wie eine Verrückte, um mich über seine Krankheit zu informieren und zu wissen, was ich tun konnte, denn Pedro hatte mich gebeten, niemandem von seiner Krankheit zu erzählen – man mag das als Vogel-Strauß-Verhalten interpretieren, aber er wollte einfach nicht wie ein Kranker behandelt werden und auch nicht ständig über seine Krankheit nachdenken oder darüber sprechen. Ich habe seinen Wunsch respektiert und den Mund gehalten. Das bedeutete allerdings auch, dass ich mich allein in einem fremden Gesundheitssystem zurechtfinden musste, was nicht einfach war. Erst als alles zu viel wurde und Pedro orientierungslos war, vertraute ich mich zwei Freundinnen an: meiner Freundin in Deutschland und meiner Freundin Mercedes in Sevilla, denn sie arbeitet im hiesigen Gesundheitswesen. Beide machten mir kontinuierlich mit WhatsApp-Nachrichten und Anrufen Mut.

Also, ja, die Angehörigen leiden ebenfalls. Doch nachdem ich eine Weile (so rund hundert Seiten) darüber geschrieben hatte, kam ich zu dem Schluss, dass das eigentlich niemand lesen will. Denn, wie gesagt, jeder hat seine eigene Geschichte, sein eigenes Leid. Deshalb wollte ich mit meinem Buch nicht auf diesen Teil eingehen, ich wollte niemanden in der gleichen Situation mit Pedros Geschichte noch mehr deprimieren, sondern ich wollte schildern, wie es danach weiterging. Zum Teil war das auch Fionas Idee, der ich gar nicht genug dafür danken kann.

Mein Buch zeigt meine persönliche Entwicklung, was ich gelernt habe, zu welchen Schlussfolgerungen ich über mich und das Leben im Allgemeinen gekommen bin. Natürlich muss auch hier jeder seinen eigenen Weg gehen. Aber ich will mit meiner Geschichte Mut machen, will zeigen, dass man sein Leben auch nach einem solchen Verlust wieder in den Griff bekommen kann, dass es trotz allem weitergeht und irgendwann alles wieder gut wird.

Viele sagen, dass eine solche Wunde niemals verheilt – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich heute nicht mehr in Tränen ausbreche, wenn ich an Pedro denke, sondern lächelnd über ihn sprechen, von ihm erzählen und an ihn denken kann, dankbar für die Zeit, die ich mit ihm hatte. Aber ich bin auch dankbar für die Entwicklung, die ich durchgemacht habe, und für den neuen wunderbaren Menschen, der jetzt in meinem Leben ist und mit dem ich jede Minute genieße.

Für uns, die wir hierbleiben, geht das Leben weiter und hat noch viel zu bieten. Es braucht Zeit, aber irgendwann ist man tatsächlich wieder glücklich, so unwahrscheinlich und undenkbar einem das anfangs auch vorkommen mag. Und das ist es, was ich in meinem Buch herüberbringen will. Ich hoffe, es ist mir gelungen.

Sollten mein Buch und meine Geschichten also auch nur eine einzige Person da draußen, die gerade in der gleichen Situation ist, aufmuntern und ihr auf dem Weg zurück zu sich selbst ein bisschen helfen, dann habe ich mein Ziel erreicht.