Feria

Die Feria de Chiclana steht bevor und Fiona bekniet mich, im traditionellen Flamenco-Kleid, auch Traje de Gitana oder Traje de lunares oder Traje de Flamenca genannt, zur Feria zu gehen. Oh, Himmel. Nein, nein, da mache ich nicht mit. Das sieht doch bescheuert aus – eine große, rotblonde Deutsche im traditionellen Traje de Gitana?!! Aber Fiona lässt nicht locker.

„Ich habe jede Menge Kleider hier. Von mir, von meinen Töchtern. Wirklich, jede Menge. Ich leihe dir eins!“

Schließlich lasse ich mich breitschlagen und verspreche, am nächsten Vormittag zu ihr zu fahren und die Kleider anzuprobieren.

Am nächsten Vormittag muss ich statt zu Fionas zu Lauras Haus fahren, denn Laura arbeitet, und Fiona überwacht die Maurer, die an Lauras Haus herumwerkeln. Von Ben habe ich nichts mehr gehört. Was soll’s.

Ich tauche in Shorts und Shirt bei Lauras Haus auf und sehe mich vor einer riesigen Plastiktüte, in die alle möglichen Flamenco-Kleider gestopft wurden.

Die Kleider sind schön, aber meilenweit zu kurz für mich. Ich probiere eins nach dem anderen an, während wir immer wieder kurz aus dem Fenster schielen, ob auch gerade kein Maurer vorbeigeht …

Schließlich schüttele ich den Kopf, steige wieder in meine Shorts und sage bestimmt: „Die sind alle zu kurz für mich, aber dann auch wieder nicht so kurz, dass sie als kurzes Kleid durchgehen würden. Ich sehe aus, als wäre ich rausgewachsen.“

„Aber du könntest sie mit Stiefeln tragen!“, wendet Fiona beharrlich ein. Ja, mit Stiefeln würde das eine oder andere Kleid gar nicht schlecht aussehen, allerdings eher im Western-Stil, nicht im Flamenco-Stil. Aber das eigentliche Argument gegen die Stiefel sind die Temperaturen draußen:

„Stiefel? Bei der Hitze?!“, frage ich daher auch völlig entsetzt. Es ist Anfang Juni, es herrscht starker Levante und die Temperaturen sind auf Höhenflug. In Stiefeln werden meine Füße kochen, braten, dünsten, backen und was weiß ich noch.

„Ach komm schon, das wird ein Heidenspaß! Ich war seit Césars Tod nicht mehr auf der Feria!“, bettelt Fiona jetzt.

„Ok, hör zu. Ich fahre mal bei María Luisa vorbei. Sie hat doch jetzt dieses zweite Geschäft eröffnet, in dem sie Trajes de Gitana speziell für die Feria verkauft. Ich schaue mal, ob da was dabei ist, was lang genug ist. Oder eben ganz kurz.“

Tatsächlich hat Ana, María Luisas Tochter, ein Kleid für mich. Es ist für alle anderen Kundinnen zu lang und für mich goldrichtig. Schlicht in Schwarz gehalten, mit tiefem V-Ausschnitt, aus Lycra, sitzt hauteng und ist absolut perfekt. Unterhalb der Knie hat es drei Volants, die ein bisschen ausladend sind. Ich probiere es etwas zögerlich an, komme aus der Umkleidekabine und schaue in den Spiegel. Das Kleid ist umwerfend. Ana macht auch gleich ein Foto, das ich Fiona schicke. „Bereite dein Kleid vor – ich habe eins für mich gefunden!“

Der Preis ist weiß Gott kein Pappenstiel, aber ich hoffe einfach mal, dass ich das Kleid (solange ich nicht zunehme) viele Jahre lang auf den Ferias amortisieren werde. Und so komme ich zu meinem ersten Traje de gitana.

Am nächsten Tag meldet sich Soledad bei mir, sie hat sich in San Fernando ein neues Flamenco-Kleid gekauft und möchte es in diesen Tagen ebenfalls vorführen. Die Feria beginnt am Mittwochabend, am Donnerstag ist „Frauentag“, daher haben Fiona, Frasky, Sol und ich uns für den Donnerstag für 21.00 Uhr am Eingang zum Festplatz verabredet.

Ich brettere mit heruntergelassenem Fenster über den Parkplatz der Feria, aus meiner Audioanlage dröhnt Gangster’s Paradise. Ein paar Parkwächter weisen mir eine Parklücke zu, und ich setze mein Auto schwungvoll hinein. Bei ihnen steht ein etwa vierzehnjähriger Junge, der mich mit großen Augen ansieht und dann begeistert mit dem Kopf zu meiner Musik nickt. Ich muss grinsen – coole Musik und dann mein traditionelles Gewand. Was für ein Kontrast.

Sol ist schon da, und Frasky kommt im gleichen Moment wie ich an. Wer nicht auftaucht ist, wie immer, Fiona. Da Frasky und Sol sich nicht kennen, muss ich ein bisschen das Bindeglied zwischen den beiden spielen. Wir stehen noch eine kleine Weile herum, und ich schicke Fiona mehrere Audionachrichten, um zu fragen, wo sie denn bleibt. Keine Antwort.

Frasky wird langsam sauer, und so entscheiden wir, einfach loszuziehen. Ich war vor Jahren zum ersten und letzten Mal auf der Feria in unserer Stadt und hatte sie völlig anders in Erinnerung. Was ich jetzt sehe, ist ein gigantischer Jahrmarkt mit den unglaublichsten Achterbahnen und anderen Attraktionen, in denen man sich einen Adrenalinschub holen kann, vorausgesetzt, man ist ausreichend lebensmüde, um in diese Dinger zu klettern. Und wer zu viel gegessen hat, kann auf diese Weise auch ganz locker wieder seinen Mageninhalt von sich geben und Platz für mehr machen …

Sol möchte unbedingt eine gefüllte Ofenkartoffel, weshalb wir uns einen Tisch suchen. Frasky und ich trinken nur etwas, während Sol glücklich ihre Kartoffel mampft. Fiona ist immer noch nicht aufgetaucht. Wir schwatzen, und ich betrachte dabei die vielen Leute, die an uns vorbeiflanieren. Ein Kleid schöner als das andere. Na ja, manche sind auch ein bisschen kitschig oder überladen, wenn ich ehrlich bin. Einige Mütter sind mit ihren Töchtern sogar im Partnerlook. Selbst die Allerkleinsten sind in diese Flamenco-Kleider gehüllt. Ein Meer an Farben, Mustern, Volants, Schultertüchern, Stoffblumen im Haar, Fächern und was sonst noch so dazugehört.

Nachdem Sol mit ihrer Kartoffel fertig ist, schlendern wir weiter. Der Jahrmarktteil endet, und es fängt der Teil an, in dem Casetas aufgebaut sind. Aus jeder schallt eine andere Art von Musik. In einigen werden Sevillanas gespielt, aus anderen dröhnt laute Discomusik. Eine der Casetas ist dafür bekannt, viel aus den 80ern zu spielen, und natürlich müssen wir gleich dorthin. Drinnen ist es warm und stickig, und mein Kleid trägt auch nicht gerade dazu bei, dass mir kühler ist. Diese Kleider wiegen nämlich nicht nur viel, sondern sind auch wahnsinnig warm. Zumindest der untere Teil mit den vielen Volants. Zwei Tänze, und schon schwitze ich wie in einer Sauna. Aber den anderen geht es nicht anders.

So ganz nebenbei erfahre ich übrigens von Sol, als sie ihren Geldbeutel herauskramt, dass unsere Kleider auf der Innenseite des untersten der vielen Volants eine eingenähte Tasche haben, damit frau dort Handy und Geldbeutel verstauen kann und zum Tanzen die Hände frei hat! Na sowas!!

Ich versuche es probehalber. Geldbeutel, Handy, Autoschlüssel, Lippenstift und ein Päckchen Papiertaschentücher passen gerade eben in diese eingenähte Tasche. Ich mache ein paar Schritte und muss feststellen, dass mir das aber viel zu viel Gewicht unten am Kleid ist. Dass mir das Handy bei jedem Schritt gegen das Bein donnert ist auch nicht unbedingt angenehm und wahrscheinlich weder für mein Bein noch für das Handy zu empfehlen. Daher wechsele ich nach diesem kurzen Ausflug in die Tiefen der Flamenco-Mode wieder zurück zu meiner kleinen Handtasche.

Ein junger Mann, der schon so viel intus hat, dass er nicht mehr geradeaus sehen kann, tanzt in unserer Nähe und rückt (eher auffällig als unauffällig) näher an uns heran. Muss am Halbdunkel und am Alkohol liegen, dass er nicht kapiert, wie groß der Altersunterschied zwischen ihm und uns ist. Frasky rollt nur mit den Augen, Sol versteckt sich hinter Frasky, und ich sehe mich wieder einmal allein auf weiter Flur, Auge in Auge mit der ‚Gefahr‘. Ich schnaube amüsiert, während ich immer wieder von ihm abrücke und in eine andere Richtung tanze. Er tanzt natürlich immer schön hinterher. Frasky rollt weiter mit den Augen, Sol versteckt sich immer noch hinter Frasky, und ich, als die Größte im Bunde, rage wie ein Leuchtturm aus der Menge hervor, weshalb ich mich nirgendwo verstecken kann. Also habe ich jetzt diesen Betrunkenen im Schlepptau. Himmel hilf.

Doch dann entdecke ich José und Luis, zwei Bekannte, an der Bar und winke ihnen zu.

Ha! Überall Bekannte – die Feria macht mir langsam so richtig Spaß.

Während wir ein paar Worte mit José und Luis wechseln, zieht der Betrunkene endlich Leine. Schnauf.

Sol und Frasky machen mir Zeichen, dass sie zur nächsten Caseta weiterziehen wollen, weshalb ich mich von José und Luis verabschiede. Kaum verlasse ich die caseta, renne ich direkt meinem jungen Nachbarn und Fan, Ernesto, in die Arme, der mir in letzter Zeit öfter mal vorgeschlagen hat, gemeinsam zu irgendwelchen Jam Sessions zu gehen. Außerdem müsste er dringend Wäsche waschen und hätte keine Maschine, da müsste er wohl mal bei mir zuhause vorbeischauen, lautete der letzte Vorschlag. Ähem, nein. Wir begrüßen uns mit dem üblichen Küsschen rechts, Küsschen links. Er und seine Truppe haben in einer der Casetas kubanische Rhythmen zum Besten gegeben. Noch ein paar Worte und schon ziehen wir weiter.Kurze Zeit später verabschiedet sich Frasky, weil sie am nächsten Tag früh raus muss. Sol und ich besuchen noch ein paar andere Casetas. Die letzten beiden sind ausschließlich von Jugendlichen zwischen siebzehn und zwanzig Jahren bevölkert, und wir kommen uns etwas fehl am Platze vor. Außerdem dröhnt aus den Lautsprechern nur Reggaeton, manche Lieder sind ja ganz nett, aber bei den meisten sind mir die Texte zu blöd. Also zurück zur 80er Caseta.

Doch ich möchte nicht mehr lange bleiben, seit Covid tut mir mein linkes Bein weh. Und für heute war ich einfach schon zu lange unterwegs. Sol beschließt, auch lieber nach Hause zu gehen.

„Das ist ein Hammer, dass Fiona überhaupt nicht aufgetaucht ist und nicht mal unsere Nachrichten beantwortet hat.“, beschwere ich mich lautstark, während Sol mir beipflichtet: „Nicht zu fassen!“

Kurz vor dem Ausgang des Festplatzes sehe ich plötzlich Fiona im Sturmschritt über den Festplatz marschieren. Im dunkelblauen Traje de Gitana mit Schultertuch, Blumen im Haar, großen Kreolen-Ohrringen und Handy am Ohr. Gleichzeitig klingelt mein Handy. Na, so ein Zufall aber auch. Ich krame mein Handy hervor. Yep. Fiona.

„He Fiona!“, ruft Sol derweil und winkt wie verrückt. Wir schwenken in ihre Richtung, während Sol weiter Fionas Namen ruft, bis die Angesprochene endlich etwas hört und ihren Kopf in unsere Richtung dreht.

„Aaah, da seid ihr ja!“, hetzt sie auf uns zu und drückt im Laufen auf die Auflegen-Taste ihres Handys, wodurch mein Handy auch nicht mehr länger klingelt. Schön.

Als Nächstes erzählt sie uns brühwarm, dass sie irgendein Problem mit dem Auto hatte und Miguel sie zur Feria bringen musste. Sie ist wieder einmal über zwei Stunden zu spät.

„Wo wollt ihr hin?“, fragt sie jetzt.

„Na, nach Hause natürlich! Wir sind schon ewig hier.“, zicke ich zurück, denn seit Covid und Covid-Impfungen habe ich Probleme mit meinem linken Bein und nach dem Laufen und Tanzen heute tut es mittlerweile richtig weh, und ich humpele nur noch.

„Neeeiiin! Oh, nein, biiiitte!“

„Nix da, ich bin völlig fertig.“, beharre ich.

„Ach kommt schon, nur ein Glas!“, bettelt sie, aber ich kann wirklich nicht mehr laufen und allein der Gang zum Parkplatz flößt mir schon Grauen ein. Hoffentlich ist irgendwo eine Bank, wo ich mich mal kurz hinsetzen kann … Deshalb schüttle ich entschieden den Kopf:

„Nicht mit mir, mir reichts für heute. Ich kann nur noch humpeln.“

Sol dagegen lässt sich breitschlagen. Also verabschiede ich mich von den beiden und humple im Schneckentempo Richtung Parkplatz. Verdammt, wo habe ich noch mal das Auto gelassen? Der Parkplatz ist riesig und liegt praktisch im Dunkeln da, denn die drei Laternen am Eingang haben nur den Effekt von winzigen Funzeln. Ich halte probeweise mal meinen Schlüssel in die Luft und fuchtele ein bisschen mit ihm im Halbkreis vor mir herum, während ich gleichzeitig auf den Türöffner drücke, und siehe da, die Blinker an meinem Auto leuchten brav auf. Halleluja! Es ist doch nicht mehr so weit, wie ich befürchtet hatte!! So etwa 50 m noch, na ja, gefühlte 5000 m.

Aber schon kurz darauf lasse ich mich erleichtert in den Autositz fallen. Endlich sitzen. Himmel, tut das gut. Und dann kurve ich zu ohrenbetäubendem Highway to Hell durch Chiclana und nach Hause.

Alles in allem ein ziemlich gelungener Auftakt zur Feria-Saison, wenn man mal von Fionas Zuspätkommen absieht. Zufrieden hänge ich mein Kleid an den Schrank – bereit für den nächsten Besuch der Feria, die ja immerhin bis nächsten Montag dauert.

Wieder eine Veränderung in meinem Leben. Bisher habe ich die Ferias gemieden. Jetzt gehe ich nicht nur hin, sondern habe sogar ein passendes Kleid …

Was kommt wohl als Nächstes?